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Weissenhof-Siedlung

Zum Kolorit der Häuser von Le Corbusier / Pierre Jeanneret

Das Doppelhaus von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in der Weissenhof-Siedlung in Stuttgart zeigt eine kräftige Farbgebung. Sie bringt die Räume in Bedrängnis, das wird aber zur Bauzeit anders gewesen sein. In einem Bericht im neuen Buch «Die Werkbundsiedlung am Weißenhof – MacherInnen des Modernen» begründe ich diese Aussage und beschreibe meine Gedanken zur ursprünglichen Palette.

Abb. 1: Das Esszimmer der Villa La Roche war vor der Renovierung mit einem künstlichen Rotpigment gestrichen. Heute leuchtet es erneut in der ursprünglichen, natürlichen Farbgebung. Der Unterschied ist nicht zu unterschätzen. Foto: Manuel Bougot, 2019. © F.L.C. / 2023, ProLitteris, Zürich.

»Entièrement blanche la maison serait un pot à crème.« Ganz in Weiß gehalten gliche das Haus einem Sahnetopf, schrieb Le Corbusier 1926, ein Jahr vor der Weißenhof-Werkbundausstellung »Die Wohnung« in Stuttgart 1927 (Le Corbusier, 1926: Almanach d’architecture moderne, Paris, S. 146.) Es war für Le Corbusier eine produktive Zeit, aus der berühmte Villen und Siedlungsbauten hervorgingen. Alle waren farbig. Le Corbusier schöpfte die Möglichkeiten der visuellen Raumveränderung mit Farbe aus und war von den Ergebnissen so überzeugt, dass er sich schriftlich zu seinen Konzepten äußerte. Im Fall der Weißenhofsiedlung hat Alfred Roth die Schriften verfasst und Le Corbusier sie gutgeheißen (Alfred Roth, Zwei Wohnhäuser, Originalausgabe 1927, erschienen im Akademischen Verlag Dr. Fritz Wedekind & Co. Stuttgart). Die von mir gegründete Farbmanufaktur kt.COLOR war bei der letzten Renovierung nicht involviert. Ein Forschungsschwerpunkt meiner Arbeit als Chemikerin ist die Untersuchung der Farben der frühen Moderne, darum habe ich mich mit der Weißenhoffarbgebung befasst und Diskrepanzen entdeckt, die Fragen aufwerfen. In wichtigen Punkten passt Alfred Roths Beschreibung der Farbgebung nicht zur letzten Renovierung, sodass im Einzelhaus möglicherweise Enge entstand, wo Le Corbusier Weite wollte. Ich biete eine methodische Erklärung für unbeabsichtigte Fehlinterpretationen des Befunds an, die auf meinen Erfahrungen in der Villa La Roche beruhen. Diesen Bericht schließe ich mit einem Vorschlag, wie man diese wissenschaftlichen Fragezeichen auflösen und Le Corbusiers gestalterische Absicht verstehen kann.

Die Farbrekonstruktion der »Villa La Roche«

Von 1923 bis 1925 hatten Le Corbusier und sein Cousin Pierre Jeanneret die Villa La Roche in Paris gebaut. Die Villa wurde bis 2008 sieben Mal mit neuen Farbfassungen versehen, sodass der Präsident der Fondation Le Corbusier 2008 ein Team von Fachleuten mit einer neuen Analyse der ursprünglichen Polychromie beauftragte. Ich konnte die Farben analysieren und Rezepte für Farben nach Befund entwickeln. Es war für mich aufgrund der Untersuchungen selbstverständlich, dass ich mit den ursprünglich eingesetzten, weitgehend natürlichen Pigmenten arbeiten musste. Meine Befundanalysen stützten sich erstmals nicht auf freigelegte Farbschichten und ihre Angleichung an Referenzfarben in genormten Farbfächern, sondern auf exakte, mikro- und makroskopische Rekonstruktionen des Farbmaterials.

Die Ergebnisse haben die Fachwelt verblüfft und die Methode wurde publiziert (Katrin Trautwein, 2012: in Conservation of Colour in 20th Century Architecture, Giacinta Jean, SUPSI, Nardini Editore, S. 290–3053). Wir hatten in der Villa La Roche eine praktische Technik zur Farbidentifizierung erstmals angewandt, die es Forscher:innen ermöglicht, die architektonische Polychromie genau zu reproduzieren. Die Proben wurden mikrochemisch und mikroskopisch analysiert und ihre Pigment- und Bindemittelzusammensetzungen bestimmt. Jede Neuformulierung musste unter dem Lichtmikroskop im Farbton, in der chemischen Zusammensetzung (Pigmente und Bindemittel) und in der Pigmentkörnung mit der ursprünglichen Farbschicht identisch sein. Frühere Renovierungen hatten den Farbton nur angeglichen und die Farbgebung der Villa hatte sich etappenweise verändert. Dadurch entstandene Fehler in der Farbgebung wurden sichtbar gemacht und mit der neuen Intervention korrigiert, wobei sich das Erscheinungsbild der Villa La Roche dramatisch gegenüber früheren Restaurierungen veränderte. Titanweiß und andere synthetische, mineralische Pigmente wurden durch sanfte Kalkweiß-, Umbra- und Rotockerpigmente ersetzt. Die Wirkung war verblüffend.

Dieses erstmals eingesetzte Verfahren umgeht die Gefahr von Fehlinterpretationen aus zwei Gründen. Die schwere Lesbarkeit freigelegter Farbschichten als Fehlerquelle entfällt und auch die Pigmentfälschungen und Übersetzungsfehler werden vermieden, die zwingende Folgen der Angleichung an Referenzfarben in genormten Farbfächern sind. Die neue Methode stellt sicher, dass (1) das Erscheinungsbild, (2) die Materialität und (3) die Haptik der ursprünglichen Polychromie wiedergewonnen werden. Alle drei Effekte sind von den Pigmenten in den Farben abhängig und für die räumliche Wirkung der Architektur gleichermaßen entscheidend.

»Farbe« bedeutet bei Le Corbusier »Pigmentfarbe«

Le Corbusier war ein begabter Maler und kannte seine Werkstoffe und ihre Wirkungen. Zu seinen Lebzeiten war das einfacher als heute, weil die Farbenhersteller der Gegenwart keine Pigmentangaben mehr machen. Und das, obwohl die Wirkungen der Farben in Licht und Raum weitgehend über ihre Pigmente gesteuert werden.

»Die Überbauung war zu dicht. Farbe war die Lösung. […] Manche Mauern werden mit gebrannter Siena fixiert, ganze Hauszeilen weichen mit hellen Ultramarin-Anstrichen zurück. An einem anderen Ort verbinden sich hellgrüne Fassaden mit dem Grün des Gartens.« (Marylène Ferrand, Jean-Pierre Feugas, Bernard Le Roy, Jean-Luc Veyret, 1998: Le Corbusier. Les Quartiers Modernes Frugès/The Quartiers Modernes Frugès, Basel, S. 129.)

»Innen ist das Haus weiß, doch behauptet sich das Weiß erst mit dem streng geregelten Einsatz verschiedener Farben: Wände im Schatten werden Blau gestrichen, störende Elemente des Grundrisses verschwinden mittels Anstrich aus dunkler Umbra.« (Arthur Rüegg, 2016: Polychromie architecturale: Le Corbusiers Farbenklaviaturen von 1931 und 1959/ Le Corbusier’s Color Keyboards from 1931 and 1959/Les claviers de couleurs de Le Corbusier de 1931 et de 1959, Basel, S. 97)

Es gibt einige solche Textstellen in Le Corbusiers schriftlichen Äußerungen zu seiner Baukunst. Wir halten fest, dass Le Corbusier das Raumgefühl in seinen Häusern mit einem klugen Farbeinsatz gezielt zu beeinflussen versuchte, wobei die Farbenwahl aufgrund seiner als Künstler gemachten Erfahrungen mit dem raumverändernden Potenzial einzelner, wichtiger Farbpigmente geschah. Farbe folgt Funktion und Farbe bedeutet Pigmentfarbe. Er wusste, dass Pigmentwechsel, ob natürlich, mineralisch oder dynamisch-organisch, die Wirkung seiner Baukörper im Licht verändern. Das Raumgefühl in den Bauten der Weißenhofsiedlung lässt sich nur nachvollziehen, wenn man die Architektur mit den ursprünglich eingesetzten Pigmenten ausstattet.

Fragen zum Farbkonzept der Weißenhof-Le-Corbusier-Häuser

Ein aufschlussreicher Text von Alfred Roth, der die gesamten Bauarbeiten für Le Corbusier und Pierre Jeanneret betreute, benennt die Pigmente, die in ihren Häusern zum Einsatz kamen. Im Außenbereich seien Silikatfarben, im Innenbereich Leimfarben und Ölfarben zum Einsatz gekommen. Um die Bindemittel, die heute den Diskurs beherrschen, musste sich Le Corbusier nicht kümmern, er suchte matte Anstriche für Mauerwerk und seidenglänzende Ölfarbe, andere gab es nicht und der Diskurs drehte sich um die Wirkungen der viel wichtigeren Pigmente. Diese scheinen Le Corbusier am Herzen gelegen zu haben:

»Ein weiteres Problem betraf die farbige Gestaltung der Häuser innen und außen. Ich sandte Le Corbusier Skizzen der Räume und axonometrische Außenansichten der Bauten mit der Bitte, mir die verschiedenen Farbtöne einzutragen. Dies tat der Meister zu meiner Überraschung innerhalb weniger Tage. Die Farbmuster selbst legte er in Form von nur zentimetergroßen Ausschnitten aus Uni-Tapeten bei, was meine Aufgabe nicht sonderlich erleichterte.« (Alfred Roth, aus dem Vorwort).

»[…] Le Corbusier hat zum Grundakkord der farbigen Gestaltung beider Häuser Umbra, Dunkelgrau, roten Ocker, Hellgrau, Rosa und lichtes Blau gewählt. Damit ist in Verbindung mit Weiß die farbige Stimmung festgelegt. Die Verteilung von Weiß ist von vornherein bestimmt: 1. Die Fensterfläche als die unbeleuchtete und daher dunkelste Fläche ist weiß. Ein Stich ins Blau oder ein ausgesprochenes Hellblau hat bei früheren Bauten schon Anwendung gefunden. Blau weist in die Ferne und kann an der Fensterwand dazu beitragen, den Raum zu weiten. 2. Die Decken; Weiß ist hier am Platze zufolge seiner Unkörperlichkeit, um Höhe zu geben, und seiner Eigenschaft, das Licht zu reflektieren. 3. Wände, die seitlich von Licht gestreift werden, zufolge der reflektorischen Wirkung. Le Corbusier schafft auf diese Weise lauter lichte und sich weitende Räume.« (Alfred Roth, S. 36-37.)

Die heutige Farbfassung im Doppelhaus Le Corbusier/Jeanneret, übernommen von www.welterbetour.de/ weissenhofsiedlung-stuttgart. URL: commons.wikimedia.org/wiki/File:Nachgebildeter_Innenraum_Bauhausstil.jpg Rechts: Eine Photoshop-Bearbeitung zu Le Corbusiers Konzeptgedanken und zeitgleichen Bauwerken passend. Die Fensterfläche ist einheitlich weiß gestrichen und der Einbauschrank mit Dunkelgrau »weggestrichen«. © F.L.C. / 2023, ProLitteris, Zürich.

Ich möchte betonen, dass mir die Weißenhofproben nicht vorliegen, dennoch erlaube ich mir drei kritische Fragen zum heutigen Kolorit in Haus 3.

Der Ockereinsatz widerspricht sowohl dem Farb- wie auch dem Raumkonzept. Die Fensterfront müsste laut Roth weiß sein (siehe Bilder). Die Photoshop-Bearbeitung zeigt, dass der Raum dadurch lichter und weiter wäre. Gibt es Proben, die den Farbwechsel in der Fläche und den Ockeranstrich als bauzeitliche Farbfassung belegen?

Die Farbgebung in Haus 3 ist kräftiger und das Weiß ist härter und kühler, als man aufgrund zeitgleicher Farbkonzepte erwarten würde. Solche Farbverschiebungen sind an der Tagesordnung mit der üblichen Methode, Farbtöne aus freigelegten Farbfassungen vom Mauerwerk abzulesen und in NCS-Farben zu übersetzen. Der Verweis auf Uni-Tapeten legt aber die Vermutung nahe, dass man unter den Salubra-Tapeten von 1931 die richtigen Abstufungen der genannten Pigmentfarben finden kann. Ein mögliches Farbkonzept stimmt in hohem Maße mit der Farbgebung der zeitgleichen Bauten der Siedlung Quartier Modernes Frugès in Pessac (1924–1926) und Villa La Roche in Paris (1923–1925) überein.

Die Farben im Innenraum waren Leimfarbenanstriche, die wahrscheinlich abgeplatzt oder entfernt wurden. In der Regel gibt es bei den Leimfarben Einschlüsse im Gipsputz, die gute Proben für Farbrekonstruktionen unter dem Mikroskop hergeben. Wäre es wünschenswert, die Farbabstufungen neu zu untersuchen?

Die Farbwechsel in einigen Flächen sind untypisch und widersprechen Le Corbusiers Konzeptgedanken. Die puristischen Bauten zeichnen sich sonst durch eine strenge Polychromie mit monochromen Flächen aus. Auch dazu hatte sich Le Corbusier schriftlich geäußert. Oben sind aber zwei gestalterisch ungeschickte Farbwechsel zu erkennen: in der Fensterfront und im Einbaukasten, der das Klappbett umschließt. Das weiße Band unter den Fenstern bricht die Fläche und lenkt vom langen Fenster ab. Der zweite Farbwechsel im Raum betrifft den weißen Rahmen um den Einbauschrank. Man muss annehmen, dass die Architekten diesen Kasten mit einer dunklen Farbe tarnen bzw. weniger auffallend gestalten wollten. Der weiße Rahmen zeichnet die Umrisse des Einbaus und bekräftigt aber das Element im Raum, sodass der dunkle Anstrich seinen Sinn verliert. Mir sind keine vergleichbaren Farbinterventionen von Le Corbusier bekannt. Gibt es Befundproben, die diese Farbwechsel belegen?

Drei etwa zeitgleiche Farbkonzepte von Le Corbusier. Links: die Übersetzung seiner Farbangaben für die Weissenhof-Siedlung zu Salubra 1931 Codes. Mitte: Die Farbliste der Pessac-Siedlung 1926, für die Le Corbusier die Salubra-Codes von 1931 selbst angab. Rechts: Die Farben nach Befund in der Villa La Roche. Die Farbcodes und Farbnamen sind geschütztes Eigentum der Firma kt.COLOR. Die Farbrezepturen beruhen auf meinen Forschungsergebnissen und beinhalten die Originalpigmente. © ktCOLOR

Zusammenfassung und Empfehlung

Die Architektur der frühen Moderne verliert ihre natürliche Wirkung im Licht und ihren Umgebungsbezug, wenn sie mit Titanweiß und anderen damals nicht verfügbaren, mineralischen Pigmenten gestrichen wird. Natürliche Pigmente haben starke Reflexionseigenschaften, die Beziehungen zwischen den reflektierenden Flächen herstellen. Die Elemente der Architektur bilden dadurch größere, leuchtende Einheiten, wie am Beispiel des Esszimmers in der Villa La Roche zu erkennen ist. Rotreflexionen von Fläche zu Fläche verleihen dem Raum eine magisch wirkende Leuchtkraft und die Umschließung durch die Mauern löst sich im roten Licht auf. Diese atmosphärischen Fähigkeiten haben mineralische Pigmente nicht. Mineralische Pigmente wie Titandioxid und die Oxidfarben streuen das Licht an ihren Oberflächen, wobei sie die Elemente im Raum voneinander isolieren. Jede Fläche wirkt für sich allein und die Architektur wirkt dadurch unnötig kleindimensioniert, überfüllt und drückend. Oft denkt man nicht daran, dass diese Enge mit einem passenden Farbkonzept zu beheben wäre. Doch genau das hatte Le Corbusier im Sinn: »Stahlbeton befreit den Grundriss; das Haus befreit sich von seinen verbundenen, geschlossenen Räumen. Die Farbe, die den Charakter der Wände danach bestimmt, ob sie im vollen Licht oder im Schatten stehen, kann das Auge durch die komplizierten Räume des freien Grundrisses führen, kann das Raumgefühl vertiefen: Rot entfaltet seine Qualitäten im vollen Licht, Blau vibriert im Schatten, usw.: die Physik der Farben. […] Die Kalkmilch leuchtet wegen der Wand, die dunkel ist (Umbra gebrannt oder natur), wegen der Wand, die warm wirkt (Ockertöne), wegen der Wand, die zurückweicht (Blautöne usw.). Ganz in Weiß gehalten gliche das Haus einem Sahnetopf.« (Le Corbusier, 1926: Almanach d’architecture moderne, Paris.)

Pigmentangaben finden sich in seinen Schriften, in Skizzen und auf Grundrissen. Als Künstler kannte er ihre Stärken, auf die er sich im »Neuen Bauen« berief. Eine Neuevaluierung der Weißenhofsiedlung-Farben gegenüber früheren Pigmentuntersuchungen und eine mikroskopische Untersuchung der Befundschichten mit Rückführung auf die echten Pigmentfarben würde die Fragen beantworten, die ich in diesem Bericht gestellt habe. Der Aufwand wäre bescheiden, aber lohnend. Das angestrebte Raumgefühl kann hier, wie auch sonst, erst mit den echten Pigmenten erfahrbar gemacht werden.

Katrin Trautwein

Tübingen, September 2023

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