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Fälscht Farbe die Formwahrnehmung?

Zur Monografie „Lux Guyer – Obere Schiedhalde“

Die neue Baumonografie: Lux Guyer – Obere Schiedhalde. Die Wiederbelebung eines Wohnhauses von 1929, herausgegeben von Ludovic Balland und den Architekten Christ und Gantenbein und Sven Richter, ist eine Überraschung. Das Werk ist eine Freude. Ein Thema aber, das der Architektin am Herzen lag, kommt darin zu kurz: die Farbe. Die Farbfotos sind dem Material, dem Entwurf und den Details gewidmet, die Architekturaufnahmen sind aber schwarz-weiss. Trifft die Annahme wirklich zu, dass man die Architektur so besser versteht? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Farbe die Formwahrnehmung bestimmt?

Eine Aufnahme aus dem Kapitel „Möbel und Farbe“ ©Ludovic Balland. Jedes Material wird farbig fotografiert, nicht aber die Wand- und Fassadenfarben, die eine Fläche von 912 m2 bedecken und damit das weitaus präsenteste Material sind.

Schwarz-Weiss Fotos sind realitätsfremder als Farbfotos

Im Buch wird „das Haus zerlegt, um seine Einzelteile besser wiedergeben und verstehen zu können“ (Ludovic Balland, S. 185). Die Zerlegung beinhaltet aus der Raummitte heraus gemachte schwarz-weiss Bilder zu Aufnahmen der korrespondierenden Aussenmauern, die aus der gleichen Position fotografiert wurden. Innen und Aussen treffen sich an der Mauer und führen einen Dialog, der das „Gefühl für räumliche Grösse, Enge, Dichte, Aufbau und Sequenz“ vermitteln soll. Genau diese Qualitäten aber werden durch die schwarz-weiss Fotos verändert. Ein Beispiel: Lux Guyer hatte die kleinsten Räume mit Himmelgrau gestrichen, einem Farbmaterial aus Ultramarinasche, das einen visuellen Abstand zur Wand erzeugt. Auf den schwarz-weiss-Fotos ist diese Farbe sehr hell und darum entgegenstrahlend – die Wand wird zur Bildmitte und bleibt nicht, wie von Lux Guyer beabsichtigt, im Hintergrund. Es gibt eben keine nackte Realität, die durch Farben kaschiert wird, sondern nur Bilder, die wir über Farbunterschiede wahrnehmen.

Im Kapitel „Begegnung im Haus" ©Ludovic Balland sind die Fotos farbig. Links entfaltet die Farbe Himmelgrau ihre optisch aufhellende, raumauflösende Wirkung.

Farbe und Form werden gemeinsam wahrgenommen

Die CMYK-Abbildungen der Farben auf den Seiten 123-131, ohne Verbindung zu Form oder Kontext, können die verfälschten Informationen nicht berichtigen. Denn es gibt keine farbunabhängige Formwahrnehmung. Die Wahrnehmungsforschung belegt, dass wir ausschliesslich Farbreflexionsunterschiede sehen, die wir in Millisekunden prärational zu Kanten, Materialien, Werturteilen und Objekten deuten. Wenn man Farbstreifen in einem Buch zeigt und die farbigen Objekte mit schwarz-weiss Fotos darstellt, wird die Realität nicht klarer erkennbar, sondern es wird eine neue Realität geschaffen. Sie setzt sich aus Tintenstreifen (die etwas ganz Anderes als Naturpigmentfarben sind) und entfremdeten Objekten zusammen. Das Buch ist mit grösster Sorgfalt und einem raffinierten Konzept umgesetzt worden – nur zeigt es nicht Lux Guyers Absicht. Denn Farbe, Form und Gestalt sind für den Sehsinn eine Einheit.

Im Kapitel „Materialien“ sind alle Übergänge von einem Bodenmaterial zu einem anderen gezeigt. Die Farben hätten diese Aufmerksamkeit auch verdient. Rechts: Buchtitel ©Ludovic Balland.

Kann ein Buch die architektonische Absicht erfahrbar machen?

Das Buch ist ein schönes Werk. Nur wird es der Bedeutung von Farbe als Material für die Architekturwahrnehmung in keiner Weise gerecht. Farbkarten mit Farbfeldern aus den Originalfarben belegen hätten die wunderbare Haptik und Materialität der Oberflächen erfarhbar machen können. Ab Seite 132 zeigen zahlreiche Farbaufnahmen die vielen Übergänge von Material zu Material. Raum für Raum werden die Einrichtungsgegenstände abgebildet, sogar die Leuchtmittel. Das Farbmaterial aber wird weder abgebildet noch als Raumbestandteil erwähnt. Jeder Kelim scheint wichtiger zu sein. Wo bleiben die Farben, die mehr Flächen als jedes andere Material einnehmen? Die Farben offenbaren das Lichtspiel in den Räumen und gerade das macht Lux Guyers Architektur charmant.

Farbe macht Haptik sichtbar

Lux Guyers Farben haben eine haptische Überzeugungskraft, die alle Bewegungen des Lichts durch die Räume im Tagesverlauf zur visuellen und emotionalen Erfahrung machen. Ihre Farben waren aus körnigen, sandigen, samtigen, luftigen und leichten Erdpigmenten, die das Licht- und das Schattenspiel im Raum optimieren. Die Sichtbarmachung dieser, visuell die Architekturrezeption bestimmenden Qualität, würde die Architekturmonografie bereichern.

Katrin Trautwein

Uster, Oktober 2023

Die Bilder erscheinen im Buch "Lux Guyer – Obere Schiedhalde. Die Wiederbelebung eines Wohnhauses von 1929," herausgegeben von Ludovic Balland, Emanuel Christ, Christoph Gantenbein, Sven Richter. Park Books, 2023.

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