Eine Aufnahme aus dem Kapitel „Möbel und Farbe“ ©Ludovic Balland. Jedes Material wird farbig fotografiert, nicht aber die Wand- und Fassadenfarben, die eine Fläche von 912 m2 bedecken und damit das weitaus präsenteste Material sind.
Im Kapitel „Begegnung im Haus" ©Ludovic Balland sind die Fotos farbig. Links entfaltet die Farbe Himmelgrau ihre optisch aufhellende, raumauflösende Wirkung.
Die CMYK-Abbildungen der Farben auf den Seiten 123-131, ohne Verbindung zu Form oder Kontext, können die verfälschten Informationen nicht berichtigen. Denn es gibt keine farbunabhängige Formwahrnehmung. Die Wahrnehmungsforschung belegt, dass wir ausschliesslich Farbreflexionsunterschiede sehen, die wir in Millisekunden prärational zu Kanten, Materialien, Werturteilen und Objekten deuten. Wenn man Farbstreifen in einem Buch zeigt und die farbigen Objekte mit schwarz-weiss Fotos darstellt, wird die Realität nicht klarer erkennbar, sondern es wird eine neue Realität geschaffen. Sie setzt sich aus Tintenstreifen (die etwas ganz Anderes als Naturpigmentfarben sind) und entfremdeten Objekten zusammen. Das Buch ist mit grösster Sorgfalt und einem raffinierten Konzept umgesetzt worden – nur zeigt es nicht Lux Guyers Absicht. Denn Farbe, Form und Gestalt sind für den Sehsinn eine Einheit.
Im Kapitel „Materialien“ sind alle Übergänge von einem Bodenmaterial zu einem anderen gezeigt. Die Farben hätten diese Aufmerksamkeit auch verdient. Rechts: Buchtitel ©Ludovic Balland.
Das Buch ist ein schönes Werk. Nur wird es der Bedeutung von Farbe als Material für die Architekturwahrnehmung in keiner Weise gerecht. Farbkarten mit Farbfeldern aus den Originalfarben belegen hätten die wunderbare Haptik und Materialität der Oberflächen erfarhbar machen können. Ab Seite 132 zeigen zahlreiche Farbaufnahmen die vielen Übergänge von Material zu Material. Raum für Raum werden die Einrichtungsgegenstände abgebildet, sogar die Leuchtmittel. Das Farbmaterial aber wird weder abgebildet noch als Raumbestandteil erwähnt. Jeder Kelim scheint wichtiger zu sein. Wo bleiben die Farben, die mehr Flächen als jedes andere Material einnehmen? Die Farben offenbaren das Lichtspiel in den Räumen und gerade das macht Lux Guyers Architektur charmant.
Lux Guyers Farben haben eine haptische Überzeugungskraft, die alle Bewegungen des Lichts durch die Räume im Tagesverlauf zur visuellen und emotionalen Erfahrung machen. Ihre Farben waren aus körnigen, sandigen, samtigen, luftigen und leichten Erdpigmenten, die das Licht- und das Schattenspiel im Raum optimieren. Die Sichtbarmachung dieser, visuell die Architekturrezeption bestimmenden Qualität, würde die Architekturmonografie bereichern.
Katrin Trautwein
Uster, Oktober 2023
Die Bilder erscheinen im Buch "Lux Guyer – Obere Schiedhalde. Die Wiederbelebung eines Wohnhauses von 1929," herausgegeben von Ludovic Balland, Emanuel Christ, Christoph Gantenbein, Sven Richter. Park Books, 2023.