Rosarot oder Purpurrosa?

Literaturbeiträge und Anleitungen über Farbe und Farben sind in der Regel kompliziert, trivial oder esoterisch. Die Flucht in die Vermeidungsstrategien «weisse Architektur» oder «nur Materialfarben» ist eine Folge dieser Tatsache. Meine Newsletters verfolgen darum das Ziel, Ihnen neue Wege zu klugen Farbkonzepten aufzuzeigen – weil Farbe unvermeidbar und wichtig, allgegenwärtig und verständlich ist. Ich werde Sie bitten, Fragen zu beantworten und Vorurteile abzulegen, die uns allen den Weg zu einem guten Farbverständnis versperrt haben.

Was sehen Sie in diesen Bildern?

Fotos ©Karl Gegenfurtner, 2003

Trivial? Mitnichten. Sie sehen im linken Bild ausschliesslich helle und weniger helle Reflexionen, die sich an den Kanten voneinander abgrenzen. Rechts sehen Sie ausserdem spektrale Unterschiede in der Gestalt von Buntfarben, die sich ebenfalls an den Kanten voneinander abgrenzen. Sie sehen nur Farbunterschiede.

Farbunterschiede entstehen, wenn die Oberflächen im Sehfeld Licht differenziell reflektieren. Intensitätsunterschiede zeigen sich als Hell/Dunkelkontraste. Spektrale Unterschiede (Farbe-an-sich-Unterschiede) zeigen sich als Buntfarbenkonstraste. Für den Sehsinn sind Weiss, Grau und Schwarz ebenso Informationen, wie Rot, Karminrot, Violett, Blau, Cyan, Grün und Gelb. Es ist ein Wunderwerk der Evolution, dass wir diese Information aufnehmen und zu dreidimensionalen Bildern der Welt zusammenfügen können! Das, was wir als «Farbe» wahrnehmen, ist das sichtbare Ergebnis objektiver Interaktionen zwischen Licht und Materie. Diese Interaktionen machen die Welt und ihre Formenvielfalt sichtbar. Farbe ist wie wir die Welt sehen.

Die Farbforschung der letzten Dekaden hat sich fast ausschliesslich auf psychologische Aspekte der Farbe gerichtet und das zentrale Thema der Sichtbarwerdung der Materie im Licht dabei ausgeklammert. Man wird die Farbe aber erst richtig verstehen, wenn man die Wechselwirkungen zwischen Lichtenergie und Oberflächen untersucht und diese mit der Wahrnehmung korreliert.

Rosarot oder Purpurrosa?

Foto ©Shutterstock, Grafik ©kt.COLOR, 2023

Es stellt sich heraus, dass diese Fragen nicht relevant sind. Farbeindrücke sind bestimmt relativ, das ist aber nicht der Punkt. Ich kann auch nicht wissen, ob Sie eine Schwingung von 440 Herz gleich hören wie ich. Ich weiss aber, dass wir beide eine bekannte Melodie, die mit dieser Frequenz beginnt, erkennen werden. Ebenso ist uns beiden die Fähigkeit gegeben, die Objekte selbst zu erkennen, wie die Blüten und die Blätter. Die Farbtonerkennung ist relativ, die Objekterkennung ist aber konstant. Sogar bei Farbenblinden, sonst hätten sie in der Natur nicht überlebt. Unser Sehsinn erfasst nicht einzelne Farben, sondern die Farbunterschiede. Sie sind das Tool, mit dem wir neue Konzepte bilden. Daraus folgt, dass Bücher und Beiträge, die einzelne Farben mit Wirkungen belegen, wie Rosa beruhigt, Blau wirkt fern, Gelb wirkt sonnig, Rot macht aggressiv und Schwarz drückt, sich die Vorwürfe der Halbwahrheit und der Trivialisierung gefallen lassen müssen.

Helligkeits- und Farbdifferenzen strukturieren unsere Bildsprache, zeigen uns die reale Welt der Objekte und bilden die Grundlage kreativer Konzepte. So wichtig ist Farbe.

So wichtig ist Farbe für Architektur und Design

Farbe im Zusammenhang mit Licht macht Form, Design, Atmosphäre und Raum für uns sichtbar. Der Sehsinn bietet uns den wichtigsten Zugang zur Welt der Natur und der Kultur (Frank Wilczek, 2021, Fundamentals: Ten Keys to Reality. Penguin Press, Dublin, 170). Im nächsten Newsletter beschreibe ich diese Bedeutung im Zusammenhang mit der Architektur: Was sehen wir, wenn wir einen Raum betreten? In späteren Newsletter-Beiträgen erfahren Sie, wie Sie die Raumwahrnehmung gezielt mit klugen Farbinterventionen beeinflussen.

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