Im Wortwechsel in der Juni-Ausgabe von Raum + Wohnen lautete die erste Frage an mich: Wie kann ich mit Farbe Atmosphäre schaffen? Sie erfahren im Interview, dass ein monochromer, strahlend weisser Raum wie ein Gletscher wirkt und keine wohltuende Umgebung ist. Unser Sehsinn verlangt nach Wechseln. Wir belegen das Natürliche und Vertraute intuitiv mit positiven Emotionen. Das betrifft die Farben im Umfeld ganz besonders – lesen Sie weiter:
Farbe und die Atmosphäre: Das Weiss im Hintergrund hat weniger Ausstrahlung als ein Gletscher, blenden tut es uns aber trotzdem. Im Interview mit kt.COLOR Gründerin Katrin Trautwein erfahren Sie, wie wichtig die Farben im Hintergrund sind. Foto. Titelblatt Raum + Wohnen 6-7/23
Das Thema wird einfach massiv unterschätzt. Bei Kleidern zum Beispiel weiss jeder, welche Farbe er tragen kann und welche nicht. Dabei haben die Farben der Umgebung einen noch grösseren Einfluss darauf wie wir wirken, als das bisschen Pullover. Farbe ist eine innige Verknüpfung zwischen unserer Wahrnehmung und der Welt um uns herum. Die gute Nachricht: Seitdem die Hirnforschung festgestellt hat, dass wir keine Formen sehen können, sondern lediglich Übergänge von einer Farbe zur nächsten, sind wir auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von Farbe. Sich nur mit Formen zu beschäftigen und Farbe noch irgendwie hinzuzufügen, kann also gar nicht der richtige Weg sein.
Wir FarbforscherInnen sind wie KöchInnen. Wir suchen für unser Rezept immer noch die eine Zutat, die einen Wow-Effekt auslöst. Nur soll unser Ergebnis nicht die Geschmacksexplosion auf dem Teller sein, sondern die Umgebung, in der sich ein Mensch intuitiv sofort wohlfühlt. Farbe kann genau das — wenn es die richtige ist und wenn sie richtig eingesetzt wird.
Bleiben wir beim Kochen. Mit künstlichem Erdbeeraroma können Sie zwar ein passables Glacé zubereiten, es wird aber nie so gut schmecken, wie eines aus echten Erdbeeren. Mit Farben ist es ähnlich, deshalb kann die richtige Farbe nur eine natürliche sein, sie hat einfach eine andere Qualität. Die Physik der Pigmente setzt uns aber auch Grenzen. Weisse und gelbe Pigmente entfalten ihre leuchtende Wirkung beispielsweise nicht im Schatten. Anders ist das bei Grau- oder Umbratönen. Die weisse Mauer sieht im Schatten gescheitert aus, in Umbra hingegen wirkt sie ruhig und tragstabil. Komplexe Farben, die mit natürlichen Pigmenten gemischt sind, sehen zwar in jedem Licht anders aus, haben aber immer ein gewisses Reflexionsvermögen — sie wirken einfach lebendig.
Dass die Atmosphäre im Raum und die Sichtbarkeit aller Objekte unmittelbar von den Farben (und vom Farbkonzept) im Raum abhängig sind. Vereinfacht gesagt: Was ich sehe, hängt von den Farben im Raum ab und an welcher Stelle sie wechseln. Und es hängt davon ab, wie ich mich fühle, oder andersherum gesagt, wie ich mich fühle, hängt davon ab, was ich sehe.
Unser Denken ist sehr viel langsamer als unsere spontane Gefühlswelt. Letztere wird zu mehr als 50 Prozent vom Visuellen bestimmt. Kurz: Das Farbkonzept bewirkt, ob Sie sich in einem Raum unmittelbar wohlfühlen. Wir sind daran gewöhnt, unsere Umgebung über Farben zu evaluieren. Deshalb sollten Sie auch unbedingt auf Ihr Bauchgefühl hören, wenn Sie das Gefühl haben, hier stimmt was nicht. Weiterhin muss man wissen, dass sich unser Schönheitsempfinden sehr eng an der Natur orientiert. Ein strahlend weisser Raum ist — wie ein Gletscher — keine wohltuende Umgebung für uns. Unser Sehsinn verlangt nach Wechseln, er will animiert sein, er will das Natürliche, Vertraute finden. Nehmen Sie einen schönen Garten. Was zeichnet ihn aus? Hier und da blüht etwas, es gibt etwas zu entdecken, es passiert etwas — aber auch nicht so viel, dass man überfordert ist. So müssen wir an Farbkonzepte herangehen.
Das ist am Beispiel einer typischen terrassierten Wohnung mit grosser Fensterfront und tollem Ausblick schnell erklärt. Streiche ich die komplett weiss und habe vielleicht sogar noch eine weisse Küche, wird alles gleich stark reflektiert. Damit überanstrenge ich meinen Sehsinn enorm. Dann ist es wie in einem Raum, der zu laut ist. Mein Auge muss einen Ausgleich finden. Wo soll mein Blick hinwandern? Mit grosser Wahrscheinlichkeit Richtung Fenster. Das gelingt, wenn ich die Wände mit einem etwas dunkleren Weiss zurücksetze. Streiche ich sie mit einem steinigen Grau aus Umbra, verringere ich die Reflektionen sogar dann, wenn es draussen dunkel ist — dann habe ich den idyllisch beleuchteten Aussenraum im Blick. Das gilt auch anders herum: Wenn ich in den Wald schaue, muss die Wand im Zimmer nicht künstlich grün sein. Oft braucht es diese gar nicht mehr.
Beitrag als PDF lesenKatrin Trautwein
Juni 2023