Unsere Architekturwahrnehmung ist von den Farben ihrer Flächen abhängig. Gibt es dabei neutrale Farben, wie Weiss, zum Beispiel? In diesem Beitrag erfahren Sie, dass die ganze Vorstellung von „neutralen Farben“ irrational ist und es keine neutralen Farben geben kann.
Weiss, Quadratmeter für Quadratmeter das wichtigste Material im Raum. Das Weiss im Raum wirkt aber nicht nur als subjektive Grösse auf Sie ein, die sich angeblich mit Empfindungen der Reinheit usw. verbindet. Weiss ist vielmehr ein reales Material, das Licht grossflächig reflektiert. Die Reflexionen sind pigmentabhängig. Neutral sind Sie nie. Foto kt.COLOR, 2022
Bauwerke, die flächendeckend mit industriellen Weisstönen gestrichen sind, wie RAL 9016 beispielsweise, wirken flach und blendend. Das liegt am allgegenwärtigen, mikronisierten Pigment Titanweiss in diesen Farben. Mikroniserte Pigmente sind in der Anwendung billiger, wirken aber blendend, flach und diffus. Sie erfahren das Wichtigste über diese technischen Aspekte weisser Farben in einer Masterclass-Grundlagen-Lektion, die sich den Pigmenten widmet. Wir halten an dieser Stelle fest, dass weisse Farben aus Titanweiss die Helligkeit streuen und dabei alle Gegenstände im Raum in den Schattem versetzen. Objekte und Menschen wirken vergleichsweise grau und trübe – genauso, als wären sie ständig im Gegenlicht.
Es geht auch anders! Ein prächtiges Weisspigment unter dem Lichtmikroskop: Kalkweiss von Alba Albula. Die Poren nehmen das Licht ganz anders auf als das mehlige Pigment Titandioxid in RAL 9010 und anderen herkömmlichen Weisstönen. ©kt.COLOR AG
Es ist nämlich so, dass die Farbe im Hintergrund für die atmosphärische Stimmung im Raum und für die Erscheinungen im Vordergrund entscheidend ist. Das können Sie leicht testen – machen Sie ein Selfie vor einer weissen Wand und ein zweites vor einer dunklen Fläche. Sie werden vor der dunklen Fläche frischer, gesünder und jünger aussehen.
Das Weiss RAL 9010 im Hintergrund erschwert dem Sehsinn das Fokussieren. Rechts, mit Dämmergrau von kt.COLOR im Hintergrund, erkennt man die Form, die Details und die Farben besser. ©kt.COLOR AG
Überrascht Sie das? Man fragt sich, warum Flachmacher wie RAL 9016, NCS 0500-N, RAL 9003 und RAL 9010 für Wohnräume und Fassaden so beliebt sind. Wie konnten sie sich in unserem Kulturkreis als Wahrzeichen der Moderne durchsetzen? Diese Frage hat mich lange umgetrieben. Eine Antwort ist, dass die Farbsysteme, wie NCS zum Beispiel, uns glauben lassen, dass Weiss neutral ist und den Raum öffnet.
Beide Annahmen sind falsch. Sie beruhen auf einer hartnäckigen Gleichsetzung von Weiss mit Licht und Farbe mit Farbtönen. Ein Farbton ist ein Messwert. Dieser kann farblos und ein Neutrum sein. Eine weisse Wand kann das nicht. Sie reflektiert richtig viel Licht und macht jede Fläche dadurch sichtbarer. Weiss ist ein dreidimensionales Material. Die Gleichsetzung von Farbe und Farbton ist ein Irrtum, der viel Verwirrung stiftet!
Die weisse Decke links ist sichtbarer. Sie schliesst den Raum. Die graue Decke ist weniger auffallend. Der Raum wirkt höher. Aussenwand Porzellanweiss, Rückwand Salbeigrün, Decke links Porzellanweiss, Decke rechts Mondgrau. ©kt.COLOR AG
Die Materialfarben, von Holz bis Vollmondgrau, Beton bis Naturfarben, sind für die visuelle Wirkung von Architektur und Design das entscheidende Thema. Sie lernen in meinem Fachseminaren und vorallem in meiner Masterclass Licht Farbe Architektur® wie Sie mit diesem wichtigen Material ebenso gekonnt umgehen, wie mit allen anderen Baustoffen.
Katrin Trautwein
Juni 2023